Die Zehn Gebote – Garantien für die Menschenwürde

Die Zehn Gebote bekräftigen in der hebräischen Bibel Gottes Bund mit seinem Volk und fassen seine Weisungen zusammen. Thomas Mann nannte sie „das Kurzgefasste“, das „ABC des Menschenbenehmens“.

Bibelwissenschaftler und Ethiker sprechen vom Dekalog, vom griechischen „deka logoi“: zehn Worte. In der heute üblichen Fassung besteht der Dekalog aus zwei deutlich voneinander unterschiedenen Teilen: einer Reihe von drei Geboten, welche die Beziehungen der Menschen zu Gott regeln, und einer zweiten Reihe von sieben Verboten, die ihren Umgang miteinander betreffen.
Der Dekalog ist in einem jahrhundertealten Prozess gewachsen. In den durch die Wüste wandernden Nomadenstämmen, aus denen später das Volk Israel wurde, bildete sich allmählich ein Regelwerk heraus, um das Zusammenleben zu ordnen und unter ein religiöses Bekenntnis zu stellen. In der Zeit, als Könige über Israel und Juda herrschten, hat man diese Sippenüberlieferungen zu der heute bekannten Gestalt des Dekalogs kombiniert – aber in verschiedenen Varianten überliefert.
Das geschah zwischen dem zehnten und dem siebten vorchristlichen Jahrhundert. Noch der im zweiten Jahrhundert vor Christus entstandene Papyrus Nash, die älteste bekannte Bibelhandschrift, die den Dekalog enthält, bietet eine Mischung aus den beiden verbreitetsten Versionen.

Gott überreicht Moses die Zehn Gebote. – Julius Schnorr von Carolsfeld, Die Taufe Jesu, aus: Die Bibel in Bildern, Leipzig 1860

So sollst und darfst du leben, wenn du glaubst

Die eine Variante steht im Buch Exodus (Kapitel 20) und ist in eine öffentliche Gotteserfahrung eingefügt, in die Erscheinung Jahwes auf dem Berg Sinai. Die andere Fassung, überliefert im Buch Deuteronomium (Kapitel 5), fügt den Gesetzestext in eine pädagogisch formulierte Ansprache ein, die Mose später im Rückblick vor seinem Volk Israel hält; statt vom Sinai ist hier von einem Berg Horeb die Rede.

Lange schwelte unter den Bibelexperten der Streit, welche Variante älter ist. Heute interessieren sie sich eher für die Einbindung des Dekalogs in das jeweilige literarische Umfeld und sein Verhältnis zu den späteren biblischen Gesetzessammlungen. Anders als die meisten altorientalischen Gesetzestexte formuliert der Dekalog nicht kasuistisch („Wenn du dies und das tust, wirst du folgendermaßen bestraft“), sondern apodiktisch („Du sollst nicht morden … du sollst nicht die Ehe brechen“).
Das ist die Sprache des Ethos, nicht des Rechts. Es geht nicht um Sühne und irgendwelche genau definierten Verfehlungen aus der Vergangenheit, sondern um Wegweisung für die Zukunft: So sollst und darfst du leben, wenn du glaubst. Solche Kräfte wachsen dir zu, wenn du mit Gott verbunden bist. Deshalb steht am Anfang der Zehn Gebote die majestätische Selbstvorstellung eines Befreiergottes, der das Glück seiner Menschen will und in der Geschichte handelt: kein Himmelstyrann, der den Menschen ihre Freiheit beschneiden will, sondern ein guter Schöpfer, der ihnen Lebensmöglichkeiten eröffnet.
Die Zehn Gebote verbinden alle großen Religionen und können auch als Grundlage einer „weltlichen“ Ethik dienen. Ihre absolute Geltung kann verhindern, dass sich irgendeine menschliche Herrschaft absolut setzt.

Christian Feldmann