Fastenzeit
Innehalten. Umkehr. Befreiung
Abhängigkeiten überwinden, die Mitte wiederfinden, Spur halten: Warum die Fastenzeit befreiende Wirkung zu entfalten vermag. Die Einschränkungen beim Essen und Trinken sind nur Chiffre, Symbol für das, was eigentlich gemeint ist: Neuorientierung, Bewusstseinsveränderung, Kehrtwende.
„Kehrt um zu mir mit ganzem Herzen mit Fasten, Weinen und Klagen“, heißt es in den Gottesdiensten der Fastenzeit. „Zerreißt eure Herzen!“ Ein Zitat aus der hebräischen Bibel. Lebensänderung, Umkehr, Buße: Ist die Fastenzeit am Ende nur eine Erfindung griesgrämiger Mönche, die den Leuten den Spaß am Leben verderben wollen? Andererseits: Ist es lebensfeindlich, sich von Überflüssigem zu trennen, Abhängigkeiten zu überwinden, sich wieder an einfachen Dingen zu freuen, die Lebensmitte neu zu finden? Nein, umkehren, das Sein höher schätzen als das Haben, sich aus Schuldverstrickungen lösen, das hat etwas Befreiendes. Der Kontrastbegriff zum Verzicht heißt Sucht.
„Vielen geht es schlecht, weil die Bilder, die sie von sich haben, nicht übereinstimmen mit der Realität“, gibt der Münsterschwarzacher Benediktiner Anselm Grün zu bedenken. Die Fastenzeit lade zum Innehalten ein. „Stimmt denn mein Leben, oder lebe ich an mir, an meiner inneren Wahrheit vorbei?“ Lähmende Depressionen zum Beispiel könnten ein Hilfeschrei der Seele sein „gegen maßlose Bilder, dass wir immer perfekt sein müssen, immer cool, immer gut drauf!“
Das Fasten entdecken viele Menschen – und auch immer mehr Mediziner – heute neu als einen Weg der inneren Freiheit. „Verzichten ist ein Zeichen von Stärke“, sagt Anselm Grün und zitiert Sigmund Freud: Wer nicht verzichten könne, der vermöge kein starkes Ich zu entwickeln. Grün: „Und wer immer sofort jedes Bedürfnis befriedigen muss, der kann nicht wirklich genießen.“
Verzicht als Ermöglichung von Freiheit. Befreiung vom Zwang, dauernd zu trinken, klingt doch schon viel besser als Alkoholverbot. Wer Handy und PC nicht auch mal ausschalten kann, wird Schwierigkeiten im persönlichen Kontakt mit Menschen bekommen. Der Workaholic, der keine Erholung kennt, geht kaputt, seelisch und körperlich.
Ein begnadeter Theologe wie Karl Rahner tröstest uns: „Du sollst spüren, dass du gar nicht fällst, wenn du deine Angst um dich und dein Leben aufgibst, gar nicht fällst, wenn du loslässt, gar nicht verzweifelt bist, wenn du endlich verzweifelst an dir, deiner Weisheit und Stärke. Du wirst merken, dass du nicht versuchen sollst, in eigener Vollmacht aus deinem leeren Herzen zu fliehen, weil er ja da ist. Er ist da, mitten in deinem verschütteten Herzen.“
Um klar zu machen, worum es eigentlich geht, sprechen die Katholiken heute lieber von „österlicher Bußzeit“ als von Fastenzeit; die Protestanten halten am Begriff „Passionszeit“ fest. Dem einen großen Gedanken der Umkehr, der Lebenswende dienen all die uralten und großteils vergessenen Riten und Bräuche in diesen 40 Tagen von Aschermittwoch bis Ostern, in denen zu „Fastenpredigten“ und „Bußgottesdiensten“ eingeladen wird und deren Sonntage geheimnisvolle Namen tragen: Oculi, Laetare, Judica nach den lateinischen Anfangsworten der alten Eingangsgesänge.
Mancherorts gibt es noch Restbestände christlicher Folklore, wenn man es so respektlos ausdrücken darf, vor allem in der Karwoche die düsteren Prozessionen wie in Lohr am Main oder in Saal an der Donau, die mit einem Blumenmeer und flackernden bunten Lichtern geschmückten „Heiligen Gräber“ in oberbayerischen Kirchen, aber auch zur Mitte der Fastenzeit am Sonntag Laetare das „Todaustragen“, das den Winter endgültig vertreiben soll und mit dem Ertränken oder Verbrennen einer Strohpuppe endet. Man begrüßt dankbar den herannahenden Frühling, ist aber auch bereit, in der eigenen Seele neues, frisches Leben zu wecken.
Fastenzeit, Passionszeit, österliche Bußzeit: ein Weg der Umkehr, eine Entdeckungsreise in das eigene Innere, ein Abenteuerurlaub von den eingefahrenen Gewohnheiten, eine aufregende Suche nach neuen Möglichkeiten und Visionen. Die Suche beginnt mit der Frage, woran unser Herz hängt, was wir aufzugeben bereit sind, wonach wir uns sehnen, wo wir eigentlich hin wollen.
Wie es der protestantische Theologe Jörg Zink einmal ganz einfach und doch ziemlich poetisch ausgedrückt hat: „Herr, in Deiner Hand verwandelt sich die Welt. Du sprichst: Ich bin die Auferstehung und das Leben! Und alles ändert sich vor unseren Augen. In Christus ist die Erde auferstanden.“
Übrigens: Auch die Muslime kennen eine solche Zeit der Umkehr, arabisch Ramadan genannt, „der heiße Monat“. Muslime kombinieren das Fasten mit Meditieren, Schweigen, Koranlesen. Christen fasten ebenfalls, um Heilung für ein verwundetes, krankes, desorientiertes Leben zu finden und für Gott frei zu werden – aber sie haben noch eine zusätzliche Motivation: Sie fasten, wie es Jesus getan hat; und sie bereiten sich damit auf Ostern vor, das Fest der Auferstehung, wo die Fülle des Lebens gefeiert wird und alle Grenzen überschritten werden, auch die des Todes. Wie es in den Gottesdiensten dieser Zeit heißt: „Hilf uns, umzukehren und Taten der Buße und der Liebe zu vollbringen.“ – „Erneuere uns nach dem Bild deines Sohnes.“ – „Damit wir Heilung finden.“
Christian Feldmann
Fastenzeit: Warum fasten?
40 Tage in Richtung Gott
In vierzig Tagen kann man Bier brauen oder einen Intensivsprachkurs besuchen. Oder man lernt leichter Leben. Leben ohne sich von Nebensächlichkeiten den Tag diktieren zu lassen. Leben mit dem Blick für das Entscheidende. In der Fastenzeit nehmen wir uns genau dafür Zeit: Wir verzichten, um offen für Ostern zu werden
Warum soll ich auf Süßigkeiten verzichten, wenn ich für mein Leben gerne nasche? Welchen Grund gibt es, eine Fernsehsendung zu ignorieren, wenn ich noch keine Folge verpasst habe? Und weshalb soll ich das Feierabendbier vermeiden, wenn ich dabei doch so herrlich abschalten kann? Das sind berechtigte Fragen. In der Fastenzeit versagen sich viele Menschen ihre liebsten Genüsse. Fasten bedeutet zunächst einmal Verzichten. Und es bedeutet damit auch „Frei-werden“. Dieses „Frei-werden“ funktioniert immer zweifach. Zum einen werden wir durch das Fasten frei von irgendetwas: Wir lassen uns nicht mehr von relativ unwichtigen Sachen das Leben diktieren, entscheiden selber, was unseren Tag gestaltet. So klein diese Dinfe auch sein mögen, oft verstellen sie uns den Weg zum Wesentlichen. Jesus selbst sagt: “Ihr könnt nicht beiden dienen, Gott und dem Mammon.” (Lk 16,13)
Wenn wir uns also von diesen Dingen frei machen, werden wir frei für etwas. Das “Freiwerden-von” wird immer belohnt durch ein “Freiwerden-für”. Wir können Dinge anpacken und in Angriff nehmen, von denen wir zuvor nur geträumt haben. Wir können unsere Möglichkeiten vielleicht noch mehr ausschöpfen, weil wir nicht mehr an Nebensächlichkeiten hängen. Und das kann ein großartiges Gefühl sein. In der Fastenzeit bietet sich genau dazu die Chance. Wir legen unwichtige Dinge beiseite und können uns so wieder zu Gott hinwenden, uns einmal wieder genau mit ihm beschäftigen.
Auf diese Weise werden wir ruhiger und ausgeglichener. Es ist ein wenig so, wie der heilige Augustinus zu Gott betete: „Unruhig ist mein Herz, bis es ruht in Dir.“ Wir bekommen das Gefühl, wieder die Kontrolle über unser Leben zu haben. Wir werden nicht von den kleinen Genüssen beherrscht, sondern richten bewusst unser Leben nach dem großen Ziel: Gott. Diese Leben wiederum ist das, was uns Jesus verheißt: “Ich bin gekommen, damit sie das Leben haben und es in Fülle haben.” (Joh 10,10)
Das Fasten steht also nicht an sich im Mittelpunkt, sondern das große Ziel, für das wir in diesen vierzig Tagen frei werden wollen: Ostern und die Auferweckung Jesu Christi. Mit jedem Tag der Fastenzeit werden wir merken, dass wir offener für Ostern werden. Wir konzentrieren uns auf das Wesentliche. Dabei zeigen selbst kleine Gesten: Wir meinen es ernst mit unserer Beziehung zu Gott. Wir bekommen an Ostern die Auferstehung Christi geschenkt, also wollen wir jetzt auch ein wenig geben. Ob das nun Zeit, Süßigkeiten, Alkohol oder andere Dinge sind, spielt keine Rolle. Hauptsache, wir werden frei für Gott. Dazu gehört auch, dass wir uns darüber klar werden, was unsere Beziehung mit Gott bisher gestört hat. Wir können die Fastenzeit dann nutzen, um das wieder in Ordnung zu bringen – man nennt das auch „Buße“. Wir wollen umkehren, um an Ostern wieder neu beginnen zu können. Doch zuvor müssen wir investieren.
Durch die Bereitschaft zu investieren zeigen wir noch etwas anderes: Wir treten damit ein in den Kampf gegen das Böse. Das hört sich martialisch an, ist aber im Grunde ganz klar. An Ostern hat Jesus das Böse für immer besiegt. In seiner Nachfolge sind auch wir berufen dazu, uns gegen das Böse und die Sünde zu stemmen. Indem wir uns also bewusst auf Ostern vorbereiten – eben den Tag des Sieges über das Böse – versuchen wir, mit an diesem Sieg zu wirken. Natürlich immer durch und mit Christus.
Jesus in der Wüste
Die österliche Fastenzeit (oder österliche Bußzeit) nimmt Bezug auf die vierzig Tage, die Jesus in der Wüste verbrachte. Die Zahl “Vierzig” ist ein fester Bestandteil der biblischen Erzählungen. Allerdings wurde im Jahr 1091 festgelegt, dass die Sonntage nicht mehr zu den vierzig Tagen hinzugezählt werden. Deshalb war es früher auch üblich, an den Sonntagen das Fasten zu unterbrechen. Daneben entwickelte sich langsam nicht nur der Bußgedanke heraus, sondern auch die Maßgabe, in dieser Zeit mit guten Taten seine Umkehr zu dokumentieren. Dazu gehört auch die Beichte, die vor dem Osterfest abgelegt werden soll. ?Der Aschermittwoch und der Karfreitag sind als Bußtage besonders hervorgehoben. Im katholischen Erwachsenenkatechismus gibt es dazu klare Anweisungen: “Das Abstinenzgebot verpflichtet alle, die das vierzehnte Lebensjahr vollendet haben; das Fastengebot verpflichtet alle Volljährigen bis zum Beginn des sechzigsten Lebensjahres”.
Simon Biallowons