Kreuz

Ein Gott am Galgen

Sinnbild einer blutigen Sühneopfertheologie – oder Zeichen von Gottes Solidarität mit den Elenden und Verfolgten? Herrschaftsinstrument aus der finsteren Zeit der Zwangsbekehrungen – oder letzter Trost für leidende und sterbende Menschen? Wer hängt da am Kreuz: ein Schlachtopfer, von einem Sühne fordernden Gott in den Tod geschickt, oder ein Menschenbruder, der freiwillig den furchtbaren Preis für seine aufrührerische Botschaft zahlt?

An einem Freitag vor fast 2.000 Jahren, wahrscheinlich im Jahr 30 unserer Zeitrechnung, starb auf dem Galgenberg vor der Stadt Jerusalem ein Wanderrabbi namens Jeschua aus Nazaret, ein Prediger der Umkehr und Prophet einer gerechteren Welt wie viele damals. Außerhalb der Landschaft um den See Genessaret kannte ihn kaum jemand. Aber die Jerusalemer Führungsclique hatte er in Angst versetzt, als er ihr in seinen Predigten Heuchelei und dogmatischen Starrsinn vorwarf; was, wenn er sich zum Messias erklären und den römischen Besatzern wieder einmal einen Grund geben würde, ihren Terror zu verschärfen? Man musste ihn aus dem Verkehr ziehen. In einem Schauprozess verurteilten ihn die Priester und Ältesten als religiösen Aufrührer und brachten den römischen Statthalter Pontius Pilatus dazu, ihn kreuzigen zu lassen.

Ein hingerichteter Rebell mehr in der Bilanz der römischen Eroberer, na und? Nach der Niederschlagung des Spartakus-Aufstandes hatten die Römer an der Via Appia 6.000 Guerilla-Kämpfer gekreuzigt. Warum hat man diesen einen nicht vergessen?

Ganz am Anfang sprachen die Christen gar nicht gern über die ausgesprochen erniedrigende Art des Todes, die ihr Erlöser auf Golgota fand. In den Katakomben findet man stattdessen das Bild des fürsorglichen Hirten, der ein Schaf auf den Schultern trägt. Später nannte die christliche Tradition diesen Hirten Jesus selbst – mit einem Bild aus der hebräischen Bibel – das „Lamm Gottes“, geopfert für die Schuld der Welt.
Jesus von Nazaret starb an einem Kreislaufzusammenbruch oder an einem hypovolämischen Schock nach starkem Blutverlust, wie die Fachleute sagen: Ein Gekreuzigter hängt mit seinem vollen Körpergewicht an den Armen und an den Nägeln, die man durch die Unterarme oder die Handwurzelknochen getrieben hat – nicht durch den Handteller, wie man es auf den frommen Bildern sieht, in dem Fall wäre das Fleisch zerrissen und der Körper vom Kreuz gestürzt.

Foto: pixabay
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Der Fluch wird zum Zeichen der Erlösung

Im vierten Jahrhundert, als Konstantin das Christentum zur Reichsreligion machte und seine Mutter Helena angeblich das „wahre Kreuz“ entdeckte, begann die Stimmung umzuschlagen. Plötzlich redete alle Welt vom Kreuz, die Christenfrauen verwendeten goldene Kreuze als Halsschmuck, man entschloss sich, den Kreuzestod des Mensch gewordenen Gottes nicht mehr als erniedrigendes Scheitern zu interpretieren, sondern als schönstes Zeichen der Treue Gottes zu seinen Geschöpfen und als Wiederherstellung der verlorenen Menschenwürde.

So war das zwar lange schon in den Schriften des Neuen Testaments zu lesen, aber erst jetzt setzte sich die neue Wertschätzung des Kreuzes auf breiter Front durch, an der Basis sozusagen. Markus, der erste Evangelist, hatte Jesus provokant als König vorgestellt, der allen üblichen Erwartungen von Macht und Herrlichkeit widerspricht. Lukas hatte die Passionsgeschichte als Schauspiel geschildert, das den einzelnen Zuschauer beziehungsweise später den Hörer im Gottesdienst zur persönlichen Entscheidung herausfordert. Johannes wiederum zeichnete den Gekreuzigten als Menschen von Fleisch und Blut.

Paulus war es dann, der den Fluch entschlossen zur Erlösung uminterpretierte. Das Verbrecherkreuz sah er als Symbol der Versöhnung Gottes mit der Welt und einer Kraft, die in der scheinbaren Ohnmacht und Schwäche wirkt und am Ende stärker ist als alle Gewalt irdischer Machthaber.

Die ersten künstlerischen Kreuzesdarstellungen zeigen Christus als Sieger, lebend, aufrecht am Marterholz stehend. Die Theologen preisen das Kreuz in herrlichen Hymnen und fordern die Christen auf, wie es beispielsweise Johannes Chrysostomos tat: „Wir wollen das Kreuz wie eine Krone tragen!“
Christus verlässt die goldschimmernden Kuppeln der Kathedralen und steigt in die tiefste menschliche Not hinab. Im 19. und 20. Jahrhundert wandelt sich die Passionskunst noch einmal: Der Schmerzensmann wird zum Stellvertreter. Der gequälte Messias bündelt in sich alles Leid, was Menschen einander antun.

Vielleicht ist gerade das ein Grund, warum viele Menschen heute die Darstellung des zu Tode gefolterten Christus ablehnen, bis hin zu Prozessen gegen Kreuze in Gerichtssälen und Schulzimmern. Sie argumentieren, der Tote am Kreuz traumatisiere die Kinder und verstoße gegen das religiöse Toleranzgebot.

Blutige Feldzüge unter dem Zeichen des Kreuzes, Zwangsbekehrungen mit dem Kreuz in der Hand, Kreuze, die zum Siegen motivieren sollen und andere zu Opfern machen, Kreuze, die zum bloßen Symbol von Macht und Tradition geworden sind und sich im Folterkeller von Inquisitoren genauso aufstellen lassen wie in den Amtsstuben einer Apartheid-Regierung – es ist eine schlimme Hypothek, die das Kreuzes-Logo heute belastet.

Dazu kommt eine sehr missverständliche Deutung, die der englische Theologe Anselm von Canterbury im 11. Jahrhundert im Anschluss an Augustinus vertreten hat: Die Sünde der Menschen, die Gott beleidigt und sein Strafgericht herausgefordert hat, ist so unendlich groß, dass sie nur durch eine Genugtuung von unendlichem Wert gesühnt werden kann. So eine Sühne kann die armselige Menschheit niemals leisten, dafür muss Gott seinen eigenen Sohn in den Tod schicken.

Dahinter steht eine durchaus menschenfreundliche biblische Tradition von Solidarität zwischen Schöpfer und Geschöpf und von stellvertretendem Leiden, aber eben auch das fragwürdige Bild eines rachsüchtigen, unbarmherzigen, auf Sühne und Strafe sinnenden Gottes.
Doch Jesus hängt als Bruder der leidenden Menschen am Kreuz, nicht als Schlachtopfer. Es gibt die erschütternde Geschichte von dem Jungen, der im KZ Auschwitz gehängt wurde, weil er Untergrundnachrichten von Baracke zu Baracke geschmuggelt hatte. Alle Blockinsassen mussten der Hinrichtung zusehen, und einer rief anklagend: „Wo ist jetzt Gott, wo ist er?“ Der Romancier und Talmud-Gelehrte Elie Wiesel, er hat die Begebenheit als Augenzeuge überliefert, hörte eine Stimme in sich antworten: „Dort, dort hängt er, am Galgen.“
Seither wissen die Christen und ihre Kirchen, auf welcher Seite sie zu stehen haben. Auf der Seite der Leidenden und der Kleinen, nicht bei den politischen Machthabern und den frommen Heuchlern. Und sie wissen, dass die scheinbar ohnmächtige Liebe die Welt rettet – nicht Gewalt, Macht und Gesetz.

Christian Feldmann

Karwoche: Karfreitag

“Vater, vergib ihnen”

Verraten, verlassen, verhöhnt: Jesus stirbt den Tod eines Verbrechers. Am Karfreitag muss der Sohn Gottes durch die Hölle. Er wird gequält, gefoltert und gekreuzigt. Am Nachmittag um drei stirbt Jesus schließlich – und mit ihm scheinbar jede Hoffnung. Das Kreuz raubt seinen Anhängern allen Mut. Sie sind verzweifelt und sich sicher: Das ist das Ende. Alles ist vorbei.

Eine geschundene Gestalt. Ein gequältes Gesicht. Ein gekreuzigter Gottessohn. Das Kreuz ist kein angenehmes Zeichen. Zumindest nicht das Kreuz, an dem Jesus stirbt. Der Karfreitag und sein Kreuz stehen zunächst einmal für eine tiefe Traurigkeit. Die Jünger sind verlassen. Maria ist verlassen. Jesus ist verlassen. Wir können diesen Schock, diese Trauer nur schwer nachvollziehen. Für die Anhänger Jesu endet eine Zeit, in der sie an eine bessere Welt, an Erlösung dachten. Und nun das: Ihr Messias hängt zwischen zwei Verbrechern und stirbt eines grausamen Todes.

Das Kreuz ist ein schreckliches Symbol. Das Kreuz ist ein wunderbares Symbol. Denn gerade auf diesem Tiefpunkt beginnt das Osterwunder. Wäre Jesu nicht von den Toten auferstanden, das Kreuz wäre ein Fanal für das Ende aller Hoffnung und der Sieg des Bösen geblieben. So aber ist das Kreuz der Ausdruck für den Triumph des Guten. Und vor allem ein Siegessymbol der Liebe. Denn das dürfen wir nicht vergessen: Jesus nimmt die Qualen für uns auf sich. Er opfert sich, um uns zu erretten. Das unbedingte „Ja“ Gottes und Jesu zu uns Menschen wird im Kreuzestod unüberbietbar sichtbar. Am Kreuz wird Jesus mit seiner Sendung und Lehre identisch. Er wurde geschickt, um uns zu erlösen. Er lehrte die unbedingte Liebe – all das manifestiert sich am Kreuz. Jetzt wird uns klar: Die Person Jesu und seine Botschaft sind identisch. Er hat nicht das geredet und dies getan. Sondern er ist das, was er sagt. Und so sind auch seine letzten Worte zu verstehen: „Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?“ Das ist keine Anklage, kein Vorwurf. Diese Worte stammen aus einem Psalm – selbst in der Stunde seines Todes bleibt Jesus seinem Vater, bleibt Jesus uns treu. Und darauf dürfen wir uns verlassen.

Simon Biallowons

Foto: pixabay
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